Kurzgeschichten,  Storys

Ich gebe mir eine zweite Chance

Evolet
Bedeutung: zum Atmen

Metanoia
Bedeutung: ein Tagebuch, das jemandes Meinung, sein Herz oder seine Art zu leben ändert.


Lieber Niemand,
weißt du noch, als ich sagte, die Liebe von Dean und mir sei wie die von Ikarus zur Sonne? So schön, so unendlich. Jetzt müsste ich noch einen Satz hinzufügen: So zum Scheitern verurteilt, bevor sie begonnen hatte.

Es dauerte lange bis ich bemerkte, dass aus seinen Händen Chaos wuchs, wie blühende Rosen aus dornigen Sträuchern. Und ich Dummerchen hatte meine Hände vertrauensvoll in seine gelegt. Doch an dem Tag, der mit Sonnenstrahlenlächeln begann und mit Gewitterlügen aufhörte, fiel ich in die Erkenntnis: Er liebte nicht mich, sondern das Adrenalin, das Abenteuer und ich liebte nicht ihn, sondern das Gefühl, nicht vor Einsamkeit zu ertrinken. Ich hatte es bis dahin nicht begriffen. Begriffen, dass er mein Herz öfter brach, als es zu küssen. 
Seit diesem Tag falle und falle und falle ich, ohne jemals fliegen gelernt zu haben. Warum hatte er mir Flügel geschenkt, nur um sie mir sofort wieder zu stutzen?

Ich erinnere mich noch genau daran, wie die Sonne sein Gesicht in Schatten tauchte und seine Lippen meine berührten. Der Kuss an dem Tag war ein, was hätte er sein können? Was hätten wir werden können? So viel mehr, als nur Liebende. Er war fast perfekt. Fast. Ich hasste dieses Wort schon seit meiner Kindheit. Immer nah dran, aber nie genug. „Fast“ wäre auch das perfekte Wort unsere Liebe zu beschreiben.

Wahrscheinlich verstehst du nicht einmal, worüber ich jetzt nach all der Zeit kaum zu schreiben wage, aber ich versuche es dir zu erklären, was der Grund ist, warum ich jeden Tag den See meiner Tränen ein bisschen mehr füllte. So, dass ich mich fragte, wann ich selbst in meinen Tränen ertrinken würde.

Ich könnte dir von den guten Momenten erzählen, die wir an den Tagen teilten, doch dann würde ich mich mit meinem ganzen Sein in der Vergangenheit verlieren. Damals war Dean so etwas wie mein Zuhause. Ich weiß, es ist eine komische Sache, etwas sein Zuhause zu nennen, was nicht mehr als ein Gebilde aus Schatten und fallenden Träumen war. 

Mein Hals war wund, doch ich kann nicht sagen, ob es von meinen Schreien, oder von den eisernen Worten, die ich nicht wagte, auszusprechen kam. In diesem Moment, in dem ich schon das Erdbeben fühlte, das meine ganze Welt brechen lassen würde, wollte ich ihm alles sagen, doch irgendetwas hielt mich zurück. Er sagte mir, dass er mich lieben würde. Dass er nicht wolle, dass ich traurig sei.
Lügen.
Alles Lügen!
Leider bemerkt man oft zu spät, wie falsch manche Menschen sind. 
Er war gut darin. Verstehst du, Niemand? Er war gut darin, andere Glauben zu machen, man sei ihm mehr wert, als man ihm eigentlich ist. Deswegen habe ich mich von seinen Unwahrheiten einlullen lassen. Ich sagte ihm die Wahrheit.
Niemand, ich konnte es sehen. An seiner Körperhaltung. In seinen Augen. Ich konnte sehen wie das „wir“ zerfiel und ich zerbrach.

Sein leises Flüstern, fast nur ein Windwispern, ließen meine Träume wie Ballons in den Himmel fliegen und mich als leere Hülle zurück. Er ging, wendete mir den Rücken zu. Und als er ging, nahm er die Sonne mit. In diesen zerbrochenen Sekunden hatte selbst die Liebe aufgehört zu lieben, obwohl die Liebe, die Naturgewalt, die sich nie besiegen lässt. Doch die Kraft war da, die uns auseinanderbrechen ließ.

Viel zu spät streckte ich meine Hand aus, wollte nach Dean greifen. Doch außer der Luft und seinem Geist war nichts mehr da.
Ich verlor mich in der Stille der Worte um mich herum. Mein Mund voll ungesagter Entschuldigungen. Sie hätten doch eh nichts gesagt. Denn nichts bedeutete in diesem Moment mehr als das Ende hinter uns. 
Ich wartete noch Stunden auf dem Hügel, dort wo der Wind meine getrockneten Tränen mitnahm und ich die Luft mit meinem Schmerz tränkte.
Ich wartete und wartete…

Heute weiß ich, wie erbärmlich ich damals war. Ich hatte mich in mir selbst verloren. Habe mich vermisst. Das „ich“, dessen Scherben überall auf dem Boden lagen. Wenn sie wüsste, was aus ihrer Asche gewachsen ist. Dass sie ein Phönix sein würde. Die Königin aller Phönixe.

Mein Herz wurde zu einem Monster. Mein Körper, die Rippen, der Käfig, der es zurückhielt, zerbrach wie Glas. An dem Tag, der mit Sonnenstrahlenlächeln begann und mit einem markerschütternden Schrei endete, lief das Monster in mir Amok. Seine Krallen zerfetzten mich von innen. Es ließ nichts zurück, was einmal war.
Irgendwann, als das Monster nicht mehr konnte, wurde ich müde.
Müde von all dem Weinen.
Müde vom traurig sein.
Müde vom innerlich leer fühlen.
Müde vom sich nach einem Leben sehnen, was ich nie haben werde.
Müde vom Erinnern.
Aber am meisten war ich einfach müde vom müde sein.

Also begann ich, über ihn zu schreiben. Ich schrieb und schrieb. Ich beschrieb ihn als ein Sternenregen, ein Blütensturm oder als mein Sommertau. Ich schrieb und schrieb, bis er nichts mehr davon war.

Eines Tages versuchte ich über ihn zu schreiben und alle meine Gefühle in den Brief zu legen, der sein Ziel schlussendlich nie erreichen würde. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand ich auf und verließ den Raum wieder ohne ein Wort zu schreiben. Dieses reine Blatt, voll von „Nichts“, war die perfekte Art meine Gefühle für ihn zu beschreiben. Er war nichts Besonderes mehr. Er war einfach ein Junge, der mich nicht mehr wollte; das war´s.

Ich las, das Gefühle wie Wellen waren: „Wir können sie nicht stoppen, wir können nur entscheiden, auf welchen Gefühlen wir Surfen wollen und in welchen wir ertrinken.“
An manchen Tagen fühlte ich alles und an anderen gar nichts. Ich wusste nicht, was schlimmer war. In der Welle zu ertrinken oder am Durst zu sterben.
Doch das zu lernen, war was anderes, als es umzusetzen.

Niemand, du musst verstehen, dass ich lieben will. Ich will so eine tiefe Verbindung zu jemanden haben, dass er über meinen unausgesprochenen Gedanken lacht. Ich wusste aber auch, dass, wenn ich es zu diesem Zeitpunkt es mit jemandem versucht hätte, ich ihn genauso verletzt hätte wie Dean mich. Ich versuchte, mich zu finden… zu lieben. Zu diesem Zeitpunkt versuchte ich immer noch alle meine gebrochen Stücke zusammenzuflicken. So hegte ich keine Erwartungen, an jemandes Herzen.
In dieser Zeit lernte ich noch nicht, andere zu lieben, gar mich selbst, ich lernte, mir selbst eine zweite Chance zu geben.

Eines Tages, ich weiß nicht mal wann es war, im Kunstunterricht. Ich malte mal wieder die gleiche Person. Dean. Diesmal hingen ihn seine schwarzen Haare ins Gesicht und die Sonne schien darauf, so dass dieses halb im Schatten lag. Es sah genauso aus wie Dean, nur eine Sache, war immer anders: Seine Augen. Anstatt seiner braunen Augen, hatte er graue traurige Augen, die sich nach etwas sehnten, das ihnen erst gerade genommen wurde. Es waren meine Augen, an dem Tag, der mit Sonnenstrahlenlächeln begann und mit Gewitterlügen aufhörte.

In diesen Moment begriff ich, dass ich mich belogen hatte, ich hatte geglaubt, dass ich mich in ein Leben ohne ihn verlieben konnte. Ich schaffte es nur fast. Leise seufzte ich schwer und wollte meine Leinwand tauschen, als ich bemerkte, dass hinter mir jemand stand. Mein Herz klopfte sachte wie ein Vogel an meine Rippen, die sein Gefängnis waren. Der Junge, der hinter mir stand, hatte ein Lächeln auf dem Gesicht.

„Warum malst du immer wieder diesen Jungen?“, fragte er mich ohne mich auch nur anzusehen.

„Ich weiß nicht“, war das, was aus meinem Mund kam – weil er mir mein Herz gebrochen hat, weil ich ihn geliebt habe, weil er mein Ein und Alles war, bis wir nichts mehr waren, war es das was ich nicht auszusprechen wagte.

„Hier in der Nähe gibt es eine Pizzeria, mit ganz neuen Kreationen. Vielleicht, wenn du Zeit hast, könnten wir gemeinsam dorthin gehen.“ Zum ersten Mal schaute er mich an. Seine Augen waren braun, wie Deans, doch seine hatten viele kleine Sprenkel, als hätte er Millionen von Planeten in seinen Augen versteckt. Er hatte blondes Haar, das in Locken in sein Gesicht fiel. Er sah aus wie Dean und doch ganz anders.

„Wir kennen uns doch gar nicht!“

„9. Juni!“

„Was ist damit?“  Ich zog eine Augenbraue hoch und an seinem Lächeln sah ich, dass es mir nicht so gut gelang.

„Das ist dein Geburtstag. Ich weiß, dass deine Lieblingsfarbe Schwarz ist, obwohl das keine Farbe ist, da es dich an ein alles verschlingendes Schwarzes Loch erinnert. Dein zweiter Name ist Nayla und dein Lieblingsfach ist Mathe, da du es liebst, Probleme zu lösen. Und ich habe dich bemerkt. Immer wenn du nervös bist, spielst du mit deinem Armband.“ Bedeutungsschwer schaute er auf mein Armband, an dem ich automatisch spielte. Als wäre es in Flammen aufgegangen, ließ ich es los.

„Du trägst immer deinen Kopf unten, wenn du mit einem Jungen redest und wenn du nicht, weißt, was du sagen sollst, beißt du dir auf deine Unterlippe“ sagte er.

„Ich gehe aus Prinzip nicht mit Stalkern aus“ erwiderte ich. Er lächelte, weil meine Stimme so zitterte oder wegen meines Spruches. Ich wusste es nicht und es interessierte mich auch nicht wirklich. Seit langem ging ich Jungs aus dem Weg. Mit Männern hatte ich keine guten Erfahrungen gemacht. Erst mein Vater, der für alle da war, außer für mich und dann Dean, der mich verlassen hat. Ich hatte keine Dates und sprach so selten wie möglich.

 „Und ich kenne dich immer noch nicht.“

„Dann lerne mich auf eine Pizza kennen.“ Sein Blick war eindringlich, als würde er in meine Seele blicken und ein Blick auf etwas erhaschen. Etwas, was ich seit Jahren nicht mehr bei mir sah.

„Wie schon gesagt, ich gehe nicht mit Stalkern aus und ich habe heute keine Zeit.“ Ich nahm die Leinwand und stellte sie zurück ins Regal des Kunstraums. Zu all den anderen Bildern von Dean.

Als ich mich umdrehte, stand er immer noch dort und ich schaute ihm direkt in seine Planetenaugen. Ich wusste nicht, was er sah, vielleicht den Schmerz, den ich sah, wenn ich in den Spiegel schaute, aber egal was es war, es überzeugte ihn, es nicht weiter zu versuchen.

Niemand, ich hätte ihn gehen lassen, wenn da nicht der kleine Kolibri in meinem Bauch gewesen wäre, der zum ersten Mal, nach Dean wieder lebte. Ich weiß nicht, was mich dazu bewegte, aber ich habe meine Tasche vom Boden aufgehoben und holte den Jungen ein. Ich hakte mich bei ihm unter und sagte: „Du bezahlst!“ Das lächeln, was er danach auf dem Gesicht trug, konnte man mit keinem Lächeln der Welt vergleichen.

Deans und meine Liebe, würde man „Liebe auf den ersten Blick“ nennen. Schon das erste Mal, als ich ihn sah, wusste ich, dass wir zusammengehörten. Unsere Liebe war wie ein Feuer. Unsere Herzen brannten… und brannten und wurden irgendwann zu Eis. Silas und meine Liebe war anders. Ja, er rannte auch in mein Herz, als würde es ihm schon immer gehören und brach alle meine Mauern nieder. Aber unsere Liebe ging langsamer. Es gab kein Inferno beim ersten Blick, sondern nur flattern von Kolibris, die schon so lange nicht mehr so fliegen konnten. Wir redeten und lachten viel. Er war der erste, dem ich von Dean erzählte.

„Hast du ihn geliebt?“

„Ja!“

„Wie sehr?“

„So sehr wie die Sonne den Mond geliebt hat, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig“

„Warum?“

„Weil es nicht genug war, um zu bleiben. Wir waren uns nicht genug, damit er blieb“

Automatisch schaute ich auf meinen Bauch, der eine kleine Wölbung hat, aber nie so viel hatte, wie er es eigentlich haben sollte. Für einen kurzen Moment sah ich eine Erinnerung, die nie echt war. Dean, ich und ein kleines Mädchen, was zwischen uns lief.

Ich wachte aus meinen Tag-Alptraum auf, als Silas mich an der Hand berührte.

„Alles okay?“ Er klang besorgt.

„Alles gut, ich bin nur nicht glücklich“

Schweigen.

„Weißt du, Silas, ich kann Dean irgendwie verstehen. Wer kann schon ein Mädchen lieben, was noch nicht mal sich selbst lieben kann?“ Ein verrücktes Lachen drang über meine Lippen.

„Manchmal wünschte ich mir, ich könnte sterben. Nur für einen Tag, um zu sehen, wer mich vermissen würde.“

„Ich würde dich vermissen.“

Seine Stimme war ernst. So ernst, dass ich versucht war, ihm zu glauben. Langsam, ganz langsam, als wäre ich ein Reh, was man nur allzu leicht verschrecken könnte, beugte er sich vor. Er schaute mich mit seinen schönen braunen Augen und sein Kopf voller Gedanken an.

Wenn Dean und ich uns küssten, war es, als könnten wir die ganze Welt abfackeln. Als Silas und ich uns küssten, war es als würde sanft Regen auf meine Haut plätschern, um mich von den Verbrennungen zu heilen.

Silas lehrte mich, dass ich das Mädchen war, was zu ihren Träumen rannte, über die Wahrheit stolperte, der Realität begegnete und letztendlich in ihrer Fantasie versank. Und vielleicht, ganz vielleicht, verliebte ich mich Stück für Stück in den Jungen, der mit den Sternen sang, Mondschein in seinen Händen hielt und über Regenwolken spazierte.

Niemand, ich brauche Silas.

Evolet.

Als ich den letzten Punkt hinter das Wortspiel schrieb, klingelte es an der Tür.

„Ich geh schon!“, rief ich Silas zu und öffnete die Tür.

Vor mir stand Dean.

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